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Rehwild: Wissenschaft vs. Praxis

25. April 2024 -
Rehgeiß mit zwei Kitzen - © Michael Migos
© Michael Migos

In vielen Bereichen klaffen Studienergebnisse und gefühlte Realität auseinander. Ist das bei der Rehwildbejagung ebenso der Fall? Wir trafen Experten aus Wissenschaft und Jagd­praxis zum Wissens- und Erfahrungsaustausch. – 1. Teil.

Wie sieht die optimale ­Bestandesdichte in einem Rehwildrevier aus? Welche ist die beste Jagdmethode? Solche und ähnliche pauschal formulierte Fragen werden dem einen oder anderen Jäger im Rehwildrevier durch dem Kopf gehen. Dass es auf solche Fragen keine Universal­antworten gibt, wird grundsätzlich klar sein. Aber ­worauf kann tatsächlich geachtet ­werden?

"Man sollte den Lebensraum stets ,durch die Brille des Rehes‘ sehen und dessen Optimierung anstreben." – Robin Sandfort, MSc., Wildbiologe (capreolus.at)

Wir trafen zur Beantwortung dieser Fragen zwei Herrschaften, die bestens mit dem Rehwild vertraut sind: Einerseits Robin Sandfort MSc., der an den Projekten und Studien über das Rehwild am Institut für Wildbiologie und Jagdwirtschaft (IWJ) der Universität für Bodenkultur in Wien mitgewirkt hat, andererseits Fritz Wolf, der die letzten Jahrzehnte als Forstwart im Stift Melk ein Vorzeigerevier für das Rehwild geschaffen hat. Das Gespräch mit beiden Experten führte zu einer lebhaften Debatte, die aber keine ­wesentlichen Diskrepanzen zwischen Wissenschaft und Praxis hervorbrachte; vielmehr wurden Gemeinsamkeiten zwischen Forschung und Praxis­erfahrung ausgetauscht, und ein gegen­seitiger Wissenstransfer konnte stattfinden – den Sukkus daraus wollen wir Ihnen selbstverständlich nicht ­vorenthalten.

"Wer über Jahre über hohe Kfz-Verluste, niedrige Wildbret­gewichte und eine überdurchschnitt­liche Knöpflerquote jammert, hat erkannt, dass er etwas ändern muss."
– Fritz Wolf, Forstwart im Stift Melk

Zielsetzung

In vielen Revieren findet man zunächst keine Zielsetzungen vor. Hier könnte man sich Gedanken machen, welche grundsätzlichen Ziele man im Hinblick auf die Rehwildbejagung verfolgt. Sind es höhere Abschusszahlen oder ist es ein stärkeres Wildbretgewicht?
Zu allererst sei erwähnt, dass ­gesunden Rehwildbeständen und der Schadensvermeidung in der Land- und Forstwirtschaft gegenüber anderen Zielsetzungen Vorrang einzuräumen ist.
Zweitens sei erwähnt, dass alles einem ständigen Wandel unterliegt. Gerade in der Forstwirtschaft, in der durch Klimaextreme, wie trockene Sommer, Windwürfe und Borkenkäferkalamitäten, zurzeit ein Waldumbau stattfindet, wird dieser folglich auch Einfluss auf das Rehwild und dessen Bejagung haben. In welcher Form dieser Wandel stattfindet, wird zurzeit noch untersucht.

Kleinkariertes Denken

Um in puncto Rehwildbejagung aus dem Vollen schöpfen zu können, sei angemerkt, dass flächendeckende Lösungen zu keiner Effektivitäts­steigerung, wie erhöhtem Abschuss oder höherem Wildbretgewicht, führen werden. Vielmehr sollte jede einzelne Fläche „durch die Lichter des Rehes“ gesehen werden.
Rehwild gilt als extrem flexibel und ­anpassungsfähig. So sollte auch die Jäger­schaft sein und die Reaktion der Rehe auf geänderte Situationen im ­Revier „lesen“ können.

Flexibel bleiben

Leicht gesagt, aber unumgänglich: die Flexibilität des Jägers. Hier ein paar Beispiele zum besseren Verständnis:

  • Hochstände als zu starre Einheiten
    Diese Reviereinrichtungen stehen mancherorts jahrzehntelang am selben Ort. Nur weil Großvater vor zwanzig Jahren im aufkommenden Jungwuchs einen „Wahnsinnsbock“ schoss, heißt das nicht, dass nochmals ein solcher diese Fläche als attraktiv zur Äsung findet. Ein solcher Bock sollte aber ohnehin nicht als Endziel der Bejagung gesehen werden.
  • Unterschiedliche Jagdmethoden
    Damit die Abschusserfüllung einer gewissen Anzahl an Rehen in einem Revier auch flächendeckend gelingt, braucht es die Zusammenarbeit der dort jagenden Personen unter der Führung eines fachkundigen Jagdleiters. Die Bejagung sollte möglichst einheitlich und für das Rehwild ­undurchschaubar ausgeübt werden, sofern alle Jäger auf allen Reviereinrichtungen des Jagd­gebiets ­Zugriff haben. Das bedeutet, dass vor allem auf die vorherrschenden, tagesaktuellen Windverhältnisse Rücksicht genommen werden muss und nicht nur die Lieblingsansitzplätze gewählt, sondern auch die „Randecken“ bejagt werden müssen. Intervall- und Schwerpunktbejagung, Birsch, Ansitz am Wechsel oder ­Bewegungsjagden mit niederläufigen Hunden sollten nicht nur überflogene Floskeln aus Fachzeitschriften sein. Heimliche Rehe „entstehen“ unter anderem aufgrund zu durchschaubarer Bejagung. So sollte nicht ausschließlich auf Ansitzjagd gesetzt werden. Birsch und Bewegungs­jagden, aber auch Intervallbejagung und Ansitze am Wechsel lassen das Rehwild kein Muster erkennen, es „lernt“ nicht daraus und bleibt leichter bejagbar.

  • Jagddruck auf Flächen wechseln
    Auf Aufforstungsflächen sollte ­verständlicherweise der Jagddruck erhöht sein, um Schäden zu ­ver­hindern und das Wild durch Schwerpunktbejagung zu ver­grämen. Je weniger der jagende Mensch durch variierende Bejagungsstrategien berechenbar ist, desto schwieriger wird es für das Wild, den Jäger und seine Jagd­methoden zu durchschauen.

Frühjahrsbejagung

Ein früher Beginn mit der Abschussplanerfüllung bringt durchaus Vorteile. Die Vegetation, sowohl im Feld als auch im Wald, ist zumeist noch niedrig genug, und somit sind noch eine gute Ansprechmöglichkeit und genügend Schussfeld zur Erlegung gegeben.

Rot- und Rehwild - In vielen Revieren wird Rotwild stärker gewichtet als Rehwild. - © Karl-Heinz Volkmar

In vielen Revieren wird Rotwild stärker gewichtet als Rehwild. © Karl-Heinz Volkmar

Selektion

Tipps von den Profis für die Selektion: Nicht zu heikel sein; man sollte bei der Erlegung möglichst unabhängig des Geschlechts bleiben (wie es auch die Prädatoren sind). Schwache Kitze bleiben laut den Experten schwach, selbst wenn man mit deren Bejagung bis in den Herbst zuwartet.
Vielmehr sollte man sich Gedanken machen, warum in einem Gebiet derart schwache Individuen zu finden sind: Wurde die Tragfähigkeit überschritten und ist der Konkurrenzdruck durch die hohe Anzahl an Rehen und anderen äsenden Schalenwildarten so groß, dass sich keine kräftigeren Kitze entwickeln können? Welche Einflüsse gibt es überhaupt, die das Größenwachstum des Kitzes bestimmen? Auch dafür wusste Robin Sandfort eine Erklärung.

Größenwachstum des Kitzes

Studien ergaben, dass bereits im Tragsack der Geiß das Wachstum des Kitzes definiert wird. So spielt unweigerlich die Fitness der Geiß eine wesentliche Rolle für die Entwicklung. Viel wichtiger ist jedoch – und hier kann man als Jäger mit Lebensraumoptimierung zugunsten der Rehgeiß und bewusster Bejagung ansetzen –, dass in den ersten Wochen, nachdem das Kitz gesetzt worden ist, die Energie der Muttermilch wesentlich über die Fitness des Kitzes entscheidet. So wird in der Säugezeit bis zum ersten Winter die Veranlagung für das spätere Wachstum des Kitzes abgeschlossen. – Wie kann man nun jedoch den Lebensraum zugunsten der Rehgeiß in ihrer Säugezeit überhaupt optimieren?

Lichter Bestand fördert das Äsungsangebot. - Durchforstungen, Rücke­gassen, Schussschneisen. Es gibt einige waldbauliche Möglichkeiten, um den Lebensraum des Reh­wildes zu optimieren. - © Edna Gober

Durchforstungen, Rücke­gassen, Schussschneisen. Es gibt einige waldbauliche Möglichkeiten, um den Lebensraum des Reh­wildes zu optimieren. © Edna Gober

Lebensraumoptimierung

Die Fitness der Rehgeiß während der Laktationsphase spiegelt die Summe aller Einflüsse wider. Sprich: Wenn die Rehgeiß hohem Konkurrenzdruck ausgesetzt ist oder beispielsweise viel Stress durch Freizeitnutzer im Wald erfährt, wird beides negative Folgen haben. Hier kann man mit richtiger Bejagung bereits zu Beginn des Jagdjahres viel Konkurrenzdruck herausnehmen. Ebenso lässt sich mit durchdachten Maßnahmen, wie Raumnutzungsplänen für Freizeitnutzer und Ausgleichszonen für Rehwild, der Stress reduzieren.
Weiters spielt das Äsungsangebot im Frühsommer eine wesentliche Rolle. Gedüngte Wiesen, auf denen die Substanz für die Silage wächst, wirken für den Konzentratselektierer Reh weniger attraktiv als zum Beispiel vielfältige Waldränder. Des Weiteren fällt auf, dass sich durch den Nebenerwerb in der Landwirtschaft die Pflegemaßnahmen der Felder weitgehend in die Nachtstunden verlagert haben, was wiederum eine weitere Störungsquelle für das Rehwild darstellt.
Andererseits finden die Geißen in trockenen Jahren auf landwirtschaftlichen Flächen eher Flüssigkeitskompensation durch Getreide oder Mais, die den Waldrehen leider fehlt, was sich auf deren Wildbretgewicht auswirkt.
So verursache ein trockener Frühsommer, so Praktiker Fritz Wolf, vermehrt Kfz-Fallwild, da Rehwild dann auch die nachwachsenden, jungen Gräser der durch die Straßenmeisterei frisch gemähten Straßenränder bevorzuge. Ebenso lasse sich ein „Flüchten“ in höhergelegene Gebiete beobachten – sofern das Rehwild dorthin überhaupt ausweichen könne.

Waldbauliche Maßnahmen

Um zum Beispiel Kfz-Fallwild zu minimieren, können attraktive Ausgleichsflächen geschaffen werden. Es muss nicht unbedingt eine großflächige Rodung oder die Anlegung eines Wildackers sein – bereits durch den Waldbau selbst kann einiges erreicht werden.
Beim Durchfahren des Waldes des Stiftes Melk ließ sich auf den ersten Blick erkennen, dass sich Rehwild hier nur wohlfühlen kann. Unterwuchs wird zugelassen, es wird durchforstet, der Waldboden leuchtet im hellen Grün aufgrund des durchfallenden Lichtes. Hier wird auch, sofern es der Zeitplan zulässt, wertgeastet. Den einzelnen Bäumen wird viel Platz geboten. Durch den lichten Wald lassen sich auch einfacher Plätze zur Bejagung finden bzw. ist eine Birsch nahezu überall möglich.
Eine weitere Möglichkeit ist es – auch aufgrund des Waldumbaus im Zuge des Klimawandels, einzelne fruktifizierende Obstbäume und Kastanien zu pflanzen oder Eichen und Buchen bei der Durchforstung bewusst stehen zu lassen.

Richtig bejagen

Laut Studien aus Frankreich wurde nachgewiesen, dass ein Heimlichwerden von Rehen nicht ausschließlich durch das Fehlverhalten von Jägern oder Freizeitnutzern entstehen kann, sondern genetisch vererbt wird. Das ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass die scheuen Rehe „übrigbleiben“, diese sich weiter fortpflanzen und ebenso Nachwuchs mit diesen Charakterzügen hervorbringen. Wie sollte man deshalb vorgehen?
Zunächst sollte man bedenken: Schwach bleibt schwach. Ist die Fitness einer Geiß und deren Kitze schwach, sollte man nicht bis in den Spätherbst oder Winter mit dem Abschuss warten. Umso effizienter wäre es, den gesamten Familienverband, sofern möglich, zu entnehmen. Erstens nimmt man all­gemein gesehen viel Konkurrenzdruck bereits zu Beginn aus dem Revier und zweitens lernt man der Geiß kein scheues Verhalten an.

Robin Sandfort und Fritz Wolf im Gespräch - Robin Sandfort, MSc. (l.) und Fw. Fritz Wolf (r.). - © Edna Gober

Robin Sandfort, MSc. (l.) und Fw. Fritz Wolf (r.). © Edna Gober

Wünsche an die Jägerschaft

Die erfahrenen Experten Sandfort und Wolf ließen im Interview einige Anregungen an die Jägerschaft anklingen. So ist es interessant zu wissen, dass in Österreich ein Ungleichgewicht an forstlichen und jagdlichen Kennzahlen herrscht. Denkt man zum Beispiel an Wildtiermonitoring, kann man aus forstlicher Sicht etwa mit Verbiss­prozent und Abschusszahlen pro bestimmter Weiserfläche argumentieren.
Doch wie bestimmt man zum Beispiel die Vitalität eines Rehbestandes? Hier liegen dem Jäger vermutlich unwissentlich viele Informationen vor, die für die Forschung äußerst relevant wären: Zwar wurde in den letzten Jahrzehnten das Wildbretgewicht stets dokumentiert, aber wussten Sie, dass man durch die Messung des Unter­kiefers oder des Hinterlaufs Rückschlüsse auf die Stärke des Stückes ziehen kann? Und wäre es da nicht interessant, wenn man derartige Daten über einen längeren Zeitraum sammelt und sich damit die einzelnen Öko­systeme der Rehpopulationen einfach vergleichen lassen? Eine derartige (und für Jäger mit wenig Arbeit verbundene) Praxis wird in vielen Ländern nicht nur beim Rehwild praktiziert, hier hätte Österreich definitiv noch Aufholbedarf.
Sieht man sich die Studien zu Rehwild in Österreich selbst an, fällt noch etwas auf: Die meisten werden auf Jagdflächen im Wald durchgeführt, Studien zu Rehwildbejagung auf landwirtschaftlichen Flächen gibt es kaum. Das liegt wiederum an den klein­strukturierten Besitzverhältnissen der Grundeigentümer und der Finanzierung solcher Studien.
Ein weiteres Manko in vielen „Rehvieren“ ist die Unflexibilität der Jägerschaft selbst. Damit ist nicht die bereits beschriebene gemeint, sondern das System mit Genossenschaftsjagden. Sieht man sich die Jäger selbst an, gibt es bereits Unterschiede in ihren Typen: Da gibt es den, der lieber birscht, da gibt es den anderen, der nur ansitzt und die Ruhe genießen will. Und jeder sitzt in seinem vordefinierten Revierteil fest. Hier könnte man, um die Effektivität der Rehwildbejagung zu steigern, diese Typen austauschen, sodass das Rehwild kein Muster erkennt und erlernt. – Jeder dieser Jäger ist wichtig für die Jagd. Aber umso wichtiger wäre es, diese richtig und abwechselnd einzusetzen. Das wiederum würde ein gemeinsames, ohne Jagdneid oder durch Grundeigentümer eingeschränktes Verhalten voraussetzen, das, wie bekannt, leider in vielen Revieren nicht der Fall ist.

Umdenken erwünscht

Wie wir alle aus der Praxis wissen, gibt es in vielen Genossenschaftsjagden viele Alteingesessene, deren Wissen zwar relevant ist, jedoch nicht mehr dem Stand der Zeit entspricht. Hier wäre es vorteilhaft, alte Muster zumindest zu überdenken und deren Nutzen zu bewerten. Ein Blick über den eigenen Tellerrand, wie andere Reviere den Abschuss bewältigen, wäre auf alle Fälle eine Bereicherung.
Neues auszuprobieren und daraus Erfahrungen zu sammeln, ist auf Dauer Erfolg versprechend. Je unberechenbarer man vorgeht, desto undurchsichtiger wird man für das Rehwild. Denn über eines sind sich die Fachmänner einig: Viele Schwierigkeiten entstehen durch das Fehlverhalten der Jäger selbst. Selbstreflexion ist hier gefragt und der Wille, dazuzulernen.

Fortsetzung folgt!